Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Foto: Birgit Hupfeld
nach Luis Buñuel
Für die Bühne bearbeitet von PeterLicht und SE Struck
Schauspielhaus
Uraufführung 12. März 2022
ca. 2 Stunden, keine Pause
TEAM
Kostüme: Vanessa Rust
Mitarbeit Video: Rebekka Waitz
Dramaturgie: Katja Herlemann
BESETZUNG
Anna Kubin (Lizzy)
Fridolin Sandmeyer (Atmò, Einsatzleiter)
Mark Tumba (Franky)
Philipp Alexej Voigtländer (Tatti, Polizist)
Benjamin Lüdtke, Rebekka Waitz (Live-Kamera)
Janine Kaiser, Antonia Kruschel, Karina Salmen, Steven Marc Fischer, Daniel Hartlaub, Ruben Hausmann (Statisterie)
INHALT
Einige lässig elegante und kultiviert gelangweilte Angehörige des Bürgertums laden sich gegenseitig zum Essen ein – und ständig kommen ihnen die merkwürdigsten Vorfälle dazwischen. Sie wahren indes stets die Contenance, sei es angesichts eines Truppenmanövers, der Verhaftung wegen ihrer Drogengeschäfte oder wenn die Gastgeber vor dem Dinner Sex im Gebüsch haben. Allerdings häufen sich in Luis Buñuels Oscar-prämiertem Film von 1972 zusehends die Seltsamkeiten und etwas makabren Zufälle, bis die Dramaturgie zum Traumspiegelkabinett wird und die Realität als Referenzpunkt nicht mehr greifbar ist. In ihren Träumen grinst die Bourgeoisie in vielfacher Gestalt der Tod an, ihre Dekadenz, ihre eigene überfällige Liquidation. Regisseurin Claudia Bauer setzt mit dieser Arbeit ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem Musiker und Autor PeterLicht fort. Er überführt Buñuels surrealistische Traumordnung in eine heutige urbane Middleclass-Bubble mit hohem Wiedererkennungswert.
PRESSESTIMMEN
»At Schauspiel Frankfurt, Bauer has turned her attention to Luis Buñuel's 1972 film, "The Discreet Charm of the Bourgeoise,“ adapted for the stagein a surprisingly faithful version by the writing team PeterLicht and SE Struck. In a memorable sequence from Buñuel's surreal Oscar-winning movie, a band of affluent Parisians, trying in vain to eat a meal together, inexplicably find themselves dining onstage at a theater. That scene takes on a heightened degree of absurdity when it is recreated in Bauer's antic production. The audience, of course, has been there all along. Getting the actors onstage to acknowledge the spectators' presence could come off as an all too obvious gag, but here it's a subversive joke that suggests a sort of mutual recognition between the out-of-touch elites portrayed onstage and the affluent theatergoers of Frankfurt, Germany's financial center. It is one of the inspired moments when Bauer finds clever ways to translate Buñuel's mischievous provocations to the stage. Her production eschews the film's ironic detachment and pretense of normalcy in favor of something far more energetic and flamboyant. With a gypsy swing soundtrack and live video projections by Jan Isaak Voges that roam Andreas Auerbach's set-an upscale residence inside a giant white container - the production feels halfway between a sitcom and a revue. Aided by a nimble eight-person cast that forms a tight unit, Bauer turns the digressive and episodic film into a gleefully absurd carnival where farce coexists with horror.«
New York Times, 24. März 2022
»Es sind ganz große Gesten, die immer wieder im Lächerlichen enden. […] Wobei hier eindeutig das Pendel zu Komödie ausschlägt, aber zu einer Komödie, bei der einem natürlich das Lachen im Hals stecken bleibt. Die Absurdität und Überzeichnung der Figuren, die ist fantastisch, […] Es wird ständig palavert, es wird auch richtig philosophisch palavert, aber trotzdem alles so vom Tisch weggewischt, sodass quasi im Deckmantel der Komik ziemlich viel Philosophie und durch die Träume sehr viel Theaterästhetik und auch Theaterdebatte daher kommt: das Durchbrechen der vierten Wand, das Einbeziehen der Souffleuse… da werden Themen unseres Lebens verhandelt, aber eben alles mit so einer gewissen Leichtigkeit, immer auf einer Metaebene, die mitgedacht wird, was die junge Generation heute ja quasi auch schon geübt hat, also mit einer wirklich großartigen Leichtigkeit, sodass man eigentlich diese ganze Komplexität noch ein zweites Mal erleben müsste.«
DLF Kultur - Fazit, 12. März 2022
»Diese scheinbaren Details werden so gut eingesetzt, dass man Buñuels Bourgeoisie sehr treffend in unsere Gegenwart transportieren kann. […] Dieser komödiantische Aspekt von Buñuel wurde getreu aktualisiert und bewahrt. […] Und dieses Abgeschlossene, auch buchstäblich wie eine Drehbühne in sich Kreisende war sehr überzeugend inszeniert. Das war dann auch so nervig, dass viele vermutlich froh waren, als das ganz zu Ende war und sie diese Leute da auf der Bühne nicht mehr ertragen mussten. Aber genau das ist ja die Absicht der Inszenierung, insofern war das ein sehr gelungener Abend.«
hr2 - Frühkritik, 16. März 2022
»Für ihren vibrierenden „Sprech der Uneigentlichkeit" hat Bauer das furiose Überschreibungsduo SE Struck und PeterLicht an Bord geholt, das bereits bei ihrer zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Molière-Bearbeitung Maßstäbe setzte. Ihre ironische Buñuel-Schau reiht sich nahtlos ein in die kluge Selbstinszenierung der beiden Autoren als Angehörige der akuten Middle-Upper-Class-Blase. […]
Claudia Bauer hat sichtlich Spaß daran, den Schauspielern unter ihren 80er-Jahre-Betonföhnfrisuren ein gut gelauntes Dauergrinsen zu verordnen und sie in ätzend gemusterte Frohsinnskleidung zu stecken. Statt diskretem Charme versprühen sie dümmlichste Mediengeilheit und kapitalistische Kaufsucht, wobei jede ihrer stets banalen Wokeness-Floskeln erbarmungslos von zwei Live-Kameras gefilmt und dann auf die Außenwände des bühnenbreiten Wohncontainers übertragen wird. […] Anna Kubin als gastgebende Kochkreis-Schickse Lizzy kann nicht nur hochnervös mit den Augen dauerklappern, sondern läuft auch beim durchchoreografierten zitternden Seegras-Sex mit Ehemann Henri alias Andreas Vögler zu Höchstformen auf. Sebastian Kuschmanns mysteriöser Raffi Al Akosdi mimt den stets wonnig gelaunten Kulturatlaché des korrupten Wüstenlandes "Duran", dem politischer Dauerstress mit investigativen Kinderreporten droht, während die hochkieksige Katharina Linder als Flori mit den Löchern in ihrer Darmflora ebenso zu kämpfen hat wie mit der Reduzierung ihres Luxuslebens auf "ganz einfache Sachen". Unerreicht agiert Fridolin Sandmeyer in pittoresker Mehrfachbesetzung: Als bauernschlauer Kommissar Delecluze, als unberechenbar nervöser Colonel Piéplu und in der tanzenden Revue des Garçons, der seinen Gästen außer Leitungswasser nichts anzubieten hat. Lotte Schuberts Moni und Mark Tumbas Franky geben dem beständigen „I like", „freu freu", „I love it“ erst den selbstgerechten Esoterik-Touch mit hohem Wiedererkennungswert, während sich Schauspielstudiosus Philipp Alexej Voigtländer vor allem als Putzfrau Tatti hervortut, die es zur Erheiterung der Abgehobenen einfach nicht schafft, Gin mit Gurke so zu genießen, wie es hier zum guten Ton gehört: mit Achtsamkeit. Da kann man nichts machen, manche sind eben gleicher als andere.«
Frankfurter Neue Presse, 14. März 2022
»Die Regisseurin Claudia Bauer (die in Frankfurt 2020 den "Mephisto" inszeniert hat) gestaltet einen prächtigen Abend mit einem hervorragend aufgelegten Ensemble. Bei allem Gequietsche und Getue ist das ein handwerklich blitzsauberer Spaß. Erneut macht sich das Schauspiel die Riesenbühne keineswegs hilflos zunutze. Andreas Auerbach hat einen riesigen Container mit Türen und Luken platziert, auf dem Jan Isaak Voges' Livebilder aus dem Containerinneren bizarr vergrößert sind. Bizarr auch die Kostüme von Vanessa ·Rust, munterer Mustermix mit nagelneuen, todschicken schneeweißen Turnschuhen. Dazu passt die ausgeklügelte, wie choreografierte Bewegungssprache, in der nichts dem Zufall überlassen wird. […] Von nichts jedoch lassen sich die fidelen sechs ernstlich entmutigen: Anna Kubin (deren metallische Stimme besonders lange nachklingt), Katharina Linder, Lotte Schubert, Andreas Vögler, Sebastian Kuschmann und Mark Tumba halten hoppelnd, plappernd und gickelnd die Stimmung in überkandidelter Lage. Es ist ein großes Heiteitei, unterhaltsam, etwas anstrengend, schön weit weg, so lange man nicht zu sehr auf den Text achtet. Zur unbemerkten Ödnis dieses Lebens gehören zelebrierte Wiederholungen wie das pompös gestaltete Drücken einer Türklingel. Fridolin Sandmeyer, Philipp Alexej Voigtländer und eine Statistenschar flankieren die eingeschworene Gruppe als ziemlich gemütliche Eindringlinge. […]Die Übertragung der Film-Handlung ist clever, der Botschafter der lateinamerikanischen Bananen-Republik stammt jetzt aus einem fiktiven arabischen Land, Kuschmann bleibt eine windige Figur, zugleich ist er mit den Plattitüden über die islamische Welt konfrontiert, derer sich auch das aufgeklärte Bürgertum nicht schämt. Die "Terroristinnen" sind engelspuppenhafte Kinder-Reporter:innen, denn korrekt ist man auch, vielleicht gerade weil man so intensiv und ausschließlich um sich selbst kreist. Vieles aus dem Film lässt sich wieder erkennen und wird dadurch noch wertiger, um in der Sprache der Figuren zu bleiben. Eine perfekte Überschreibung, dabei von eben solcher Kälte wie das Original.«
Frankfurter Rundschau, 14. März 2022
»Nicht nur der Auftakt ist furios: Ein sonnengelb angestrahltes containerartiges Haus dreht sich zu französischem Swing und eine Schar Leute in unmöglich gemusterten Klamotten formiert sich zum zeitgemäßen Wir. Dieses Wir fährt auf Urban-Arrow-E-Bike-Lastenfahrrädern durch die Nacht und möchte Spaß. Immerzu Spaß. Dazwischen gesund Essen und richtig Atmen. Erschöpft ist dieses Wir habituell, geplagt von nichts als dem Fatigue-Syndrom. Die müde Bourgeoisie unserer Tage. Bei Claudia Bauer albern sie sagenhaft aufgekratzt herum. […] Hier ist nichts diskret, sondern alles großes Kino. Zu Anfang formiert sich das Wir auf einer Treppe vor dem Container und strahlt um die Wette, dazu schütteln sie ihre Farrah-Facett-Föhnfrisuren und gucken hinreißend dumm aus der Wäsche. Im Container wartet Lizzy, der Star des Abends, von Anna Kubin mit famosem Augengeklimper und Kieksstimme in die tollsten Übertriebensheitsvolten à Ia Anke Engelke genölt. […] Der Abend hält uns einen dreckigen Spiegel vors Gesicht und das macht er ebenso rigoros wie munter. […] Der Container verfügt über ein großes Fenster, eine Veranda und eine Dachterrasse, und die Figuren laufen von hier nach dort und glotzen und grimassieren hemmungslos direkt in die Kamera. Katharina Linder gern mit eingefrorenem Staunen im Gesicht, Andreas Vögler herrlich eckig blasiert, Mark Tumba toll werbelächelnd, Latte Schubert mit aufgerissenem Augenaufschlag. Dazwischen brilliert der begnadete Quatschmacher Fridolin Sandmeyer in Rollen aller Art. […] Eine der tollsten Szenen des Films ist auch ein Höhepunkt in Frankfurt. Wieder einmal findet die Gesellschaft zu einem Essen zusammen und merkt plötzlich, dass sie auf der Bühne eines Theaters sitzt. Ein Gag, der im Theater natürlich noch mal mehr Funken schlägt. Die sprichwörtliche vierte Wand kracht aus dem Container, so dass die Tischgesellschaft hinaus ins Publikum schauen kann. Ein Moment des Erkennens. […] Das triste Ende der Spaßgesellschaft, und ein absurd unterhaltsamer Abend, der das Unbehagen unseres Lebensstils grell ausleuchtet. Wer sich da nicht ertappt fühlt, hat andere Probleme.«
nachtkritik.de, 13. März 2022
Foto: Birgit Hupfeld
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